F. Zawrel im Landestheater St. Pölten

„Glauben Sie mir, ich kenne Menschen, die haben hunderttausende Mal mehr verbrochen wie ich, aber die sind heute wieder angesehene Leute, sind in hohen Funktionen und so.“                                           (Friedrich Zawrel zu Heinrich Gross) ¹

Am 20. März 2024 fand im Landestheater St. Pölten die Aufführung „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“ statt. Die Schüler:innen der 6c sowie alle 7. Klassen waren vorort und zeigten sich tief beeindruckt von der Lebensgeschichte des Friedrich Zawrels, aber auch von der Schauspielkunst des Nikolaus Habjan und der Ausdruckskraft seiner Puppen.  

Noch viel mehr beschäftigte unsere Schüler:innen jedoch die Tatsache, dass Zawrel beinahe Zeit seines Lebens für kleinere Delikte verurteilt und eingesperrt worden war, der ehemalige NS-Arzt Heinrich Gross, der an der Wiener „Euthanasie-Klinik“ Am Spiegelgrund an der grausamen Ermordung hunderter Kinder beteiligt war, bis zu seinem Tod – im 91. Lebensjahr – in grenzen-loser Freiheit verbringen durfte, und das ganz legal. Ursächlich war es vielleicht auch ein glücklicher Zufall, der Gross vor dem Tod bewahrte, denn sein Kollege Dr. Illing, der ärztliche Leiter des Spiegelgrunds, wurde 1946 verurteilt und hingerichtet. Gross befand sich nach Ende des 2. Weltkrieges in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, kehrte erst zwei Jahre später nach Wien zurück und tauchte erstmal unter.  

Erst 1950 wurde er wegen „Beteiligung am Totschlag EINES Kindes“ nach zweijähriger Untersuchungshaft angeklagt, nachdem 1951 das Urteil zunächst „wegen innerer Widersprüche in der Urteilsbegründung“ aufgehoben und schließlich das Verfahren im selben Jahr eingestellt wurde. Schließlich verhalf ihm der Eintritt in den Bund Sozialistischer Akademiker (BSA) zu den notwendigen Kontakten und war der Ausgangspunkt einer honorablen und durchaus lukrativen Karriere als Psychiater und Gerichtsgutachter bis einschließlich 1998 (!). 

F. Zawrel, der als junger Bub in die Augen dieses Monsters blicken musste, staunte nicht schlecht, als ihm Heinrich Gross als – damals meistbeschäftigter – Gerichtspsychiater in seinem eigenen Prozess gegenübersaß:

„Herr Doktor, für einen Akademiker haben sie aber ein sehr schlechtes Gedächtnis. […] Herr Doktor, können Sie überhaupt noch gut schlafen? Haben sie schon vergessen die vielen toten Kinder vom Pavillon 15, haben sie schon die gemarterten und misshandelten Kinder vom Pavillon 17 vergessen?“ (Auszug aus „F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig“) 

Heinrich Gross‘ Gutachten fiel dementsprechend vernichtend aus und Zawrel wurde zu sechseinhalb Jahren Gefängnis mit anschließender Einweisung in eine Anstalt für gefährliche Rückfallstäter verurteilt. Wichtig zu erwähnen ist dabei der Umstand, dass Gross sich auf ein Gutachten Illings aus dem Jahr 1943 stützte, was unter anderem die Frage bei den Schüler:innen aufwarf: „Warum war ein Gutachten aus der NS-Zeit überhaupt noch gültig?“  

Vergeblich wandte Zawrel sich an den damaligen Justizminister Christian Broda und den Oberstaatsanwalt Otto F. Müller. Dessen befreundeter Psychiater und Neurologe Otto Schiller erstellte abermals ein Gutachten, um Zawrel endgültig mundtot zu machen. Zawrel hätte „Einordnungsschwierigkeiten“ bezüglich der Geschehnisse am Spiegelgrund, es handle sich um ein „psychopathisches Syndrom“. Heinrich Gross wurde jedoch die saubere Weste attestiert, da er sich im Wahlkampfjahr 1971 für den Bundespräsidenten Franz Jonas aussprach, und dieser „auf Sauberkeit bedacht sei“. ²  

Der verzweifelte und vom Staat im Stich gelassene Friedrich Zawrel ließ sich aber nicht zum Schweigen bringen und schaffte es durch einen Mittelsmann, der Tageszeitung Kurier aus seiner Haft eine Nachricht zukommen zu lassen. Daraus resultierte der am 17. Dezember 1978 erschienene Artikel: „Ein Häftling erkannte in Österreichs meistbeschäftigtem Gerichtspsychiater Dr. Gross einen NS-Arzt wieder. Ein Arzt aus der NS-Mörderklinik.“  

Selbst danach war der Kampf um Gerechtigkeit ein nicht enden wollender. Man könnte ihn auch als Kampf gegen Windmühlen bezeichnen, denn Gross war nicht nur „mit allen Wassern gewaschen“, wie Zawrel selbst in einem Vortrag vor Schülern sagte (Video https://www.youtube.com/watch?v=KZ7EdpHxIQ0 ), sondern genoss absoluten Schutz durch die Partei. Schließlich, als es doch noch zur Anklage zum Mord kommt, wird Gross durch ein Gutachten von Reinhard Haller eine fortgeschrittene vaskuläre Demenz und Depression attestiert und er somit als verhandlungsunfähig erklärt. 2005 wird das Verfahren gegen ihn endgültig eingestellt.  

„Heinrich Gross hat es geschafft. Was er uns seit Jahrzehnten vorgespielt hat, ist, laut Gutachter Haller, biologisch eingetreten: Er ist vergesslich. Die Demenz, laut klinischem Wörterbuch ‚die erworbene Verblödung‘, hat ihn und damit auch alle, die ihn deckten, gerettet. Kein Urteil. Österreich bleibt rein.“ ³ (Dr. Werner Vogt) 

Unsere Schüler*innen haben dieses Stück zwar als „harte Kost“ bezeichnet, aber waren vor allem zutiefst berührt und bewegt von Zawrels Leidensweg. Nikolaus Habjan hat Großartiges geleistet, ein absolut sehenswertes Stück, das nächste Mal in Wien zu sehen am 25.Juni 2024 im Theater an der Josefstadt. 

Quellen: Oliver Lehmann, Traudl Schmidt: In den Fängen des Dr. Gross. Das misshandelte Leben des Friedrich Zawrel. Czernin Verlag, Wien 2001): siehe Fußnoten 1-3, und Wikipedia. 

Fotos: Schülerfotos (6c) privat, Nikolaus Habjan mit Puppe ©Lex Karelly/Schauspielhaus Graz, Nikolaus Habjan Portrait © Lukas Beck 

Bericht: Sandra Humer